Ich finde mich in Gesprächen mit Schriftstellern und Philosophen, die vor meiner Zeit Welten erdachten.
Jene die ich besonders gut verstehe, mit denen ich eine Seelenverwandtschaft spüre oder Diskussionsbedarf habe, die lade ich ein, einen Raum aus Papier oder Leinwand mit mir zu betreten.
Im Arbeitsprozess frage ich, was sie von damals noch immer denken und was sie inzwischen als obsolet erachten, was sie anders machen würden und was sie über das Heute zu sagen haben. So schreibe ich sie hinein in unsere Zeit.
Ich verbinde und verknüpfe, entschlüssele und kodiere. Ich verliere mich und je mehr ich mich verliere in den Wörtern und Sätzen, in ganzen Büchern, desto mehr verstehe ich – über das Schreiben, über den Menschen, über den Klang und die Sprache – und desto mehr füllen sich meine leeren Blätter.
All den Inhalt, all den Text, die ganze Information lege ich schichtweise auf das Papier, speichere den Klang und den Rhythmus, Teile eines Menschenlebens in mir, in meinem Geist. Ich schreibe das alles ein in meinen Körper und auf das Blatt, das immer dichter, voller, schwerer und dünner wird.
Ich webe ein Netz aus kulturellen Leitfäden, aus sich vereinzelnden Gedankenschnipseln, erschaffe ein atomares Wortweltall.
Schneckentempolangsam manifestiert sich der Inhalt, vielleicht auch ein Teilchen der Seele des Autors. Es entsteht ein Abbild das nichts mehr erkennen lässt.
Ich schreibe ein Buch, das niemand mehr lesen kann, weil wir in einer Welt leben, die keiner mehr versteht. In einer Zeit der Verwirrung und Ablenkung ist es schwierig sich zu konzentrieren, bedarf es eines Rituals um Innenschau zu halten.
Meine wörtertanzende Hand spielt Natur. Sie webt aus alten Schriften eine neue Dimension.
Meine Hand zieht intuitiv, kritzelnd, kreisend, federführend, schreibend und tintenklecksend Gedankenlinien.
Das abgeschriebene Buch fügt sich selbstständig in eine neue Form, macht eine Metamorphose durch. Je nach Charakter wird es zu einem Meer aus unzählbaren Buchstaben, zu einem Teppich aus Licht und Schatten, zu einer Wüste aus Rhythmus und Klang, zu einer Seismographie oder Vibrationsnotation. Das Schriftstück transformiert sich in ein Kunstwerk, wird Visuelle Poesie.
Ich überdenke altes Wissen und finde dadurch neue Weisheit. Im Grunde ist das Wissenschaft.
Ich lösche etwas aus und finde darin frischen Sinn. Im Grunde ist das Leben.
Ich verschwende Zeit und schaffe somit Raum. Im Grunde ist das Liebe.
Ich überschreibe Literatur und Philosophie und schaffe damit Kunst.
Im Grunde ist das Perspektivenwechsel.
Ich erschaffe Raum für mich und dadurch Raum für Zeit. Im Grunde gibt es das nicht mehr.
Darum empfinde ich es als wertvoll.
Ich mache es mir zur Arbeit, Verstand und Gefühl zu vereinen.
Meine Werke machen sichtbar, was nicht ist.
Sie eröffnen eine Sphäre für bewegungsoffene Augen, tieflauschende Ohren und mäandernde Gedanken, einen fast immateriellen Ort für Stille und Bewusst-Sein.
Julia Rhizoma. 2022