Lesen = Eseln
Alles noch mal überdacht, beim Zerlegen von Holz. Repetitiv, wie ein bestimmtes, wirkliches Leben. Aus einem Wald wird eine Wand, ein nutzbarer Stapel, der anders als Bäume, wurzellos steht. Umgekehrt: Aus einem Wortschatz wächst eine endlose Ranke, Speicherwurzel (Rhizom). Holz speichert Zeit – Wasser und Licht, in einer Zeit –, die nachträglich berührt. Nach dem Zerkleinern speichert der Stapel außerdem Arbeit, etwas mehr Fläche, Volumen, etwas mehr Einsatz, Geschick. Und etwas mehr Zeit. Ordnung innen und Unordnung außen wachsen im selben Maß, zerfallende Ränder falten sich ein wie versengtes Papier, das innen zu leuchten beginnt.
Schrift leuchtet, axt- und federfein, der originäre Charakter der jeweils selben, jeweils veränderten Hand. Derselben Schulter, die nach langer Zerkleinerung oder Verknüpfung, langem Aufschichten oder Auslegen in Schuppen und Schreibzimmer verschieden schmerzt. Ablage, Grablege – etwas darin, gestapelt oder zerknüllt, hat aufgegeben, man muss nicht lesen, um das zu sehen. Man muss nicht lesen, um etwas zu sehen, es genügt, der Schrift zu begegnen. Kubikmeilen Stämme den Amazonas runter, krachende Eisschollen den Jenissej. Ameisenstraßen in Zehenhöhe auf trockenem Waldboden in Brandenburg. Ein Trampelpfad durch urbanen Rasen speichert Entscheidungen, Füße. Ein Tretboot legt keinen Weg in den See. Die Passage ist trotzdem in ihm – im See und im Boot. Schweigen und Rede, wo nur die Dinge sind, bist eben du.
Lesen ist eseln, sag ich, schreibend, und, schöner noch, Möwen sind ungefähr Löwen. Je mehr alles sich anstrengt, desto mehr versinkt es, in sich. Das ist eine späte Schicht – die legendäre Siebente vielleicht, in der Zwerge die Arbeit heimlich, über Nacht verrichten. Die früheste Schicht ist eine Bewegung der Augen, stell ich mir vor, übersetzt durch, in eine Hand. Wieder und wieder, bis irgendwann nichts mehr steht, nur eine Bahnung, Richtung, hier und da überhängende Ohren und Knie eines von sich selbst verdeckten, vermutlich historischen Sinns. Anlegestellen für Aufmerksamkeit, vermutlich historische, die sonst ins Leere geht. Gefühl von Dauer, das sich aus sorgfältiger Vergeudung von Kraft und Zeit ergibt, insofern poetisch ist. Der Esel käut wieder, egal ob er Löwen frisst oder Heu.
Da Sprache endlos, Notation endlos auslegbar ist – all die syntaktischen Volten, rhetorischen Tricks, schillernde Vieldeutigkeit –, können wir sie ebenso gut einfalten, einen ikonischen Effekt aus ihr ziehen, ein Sentiment auf ihr züchten. Umgekehrt etwa Statistik durch Auslegen von
Summen akut, greifbar machen. Wie Kants Gesammelte Werke dir als Stütze dienen, für einen recht hohen Tisch.
Konkret: Dieser Augenweide voraus ging ausführliches Weiden der Hand. Melken der Hand, und nun ein Melken der Augen. Ausführlich: mehr als dir lieb ist, als geht. Wie auch immer es sich in Wahrheit, in Arbeit und so weiter damit verhält, spürbar in Sehnenscheiden: die Hand ist das größte Ungeheuer, der Held. Anachronistisch, schneckenhaft langsam, ich seh das als Asche: Momentum von Asche, wenn es das gibt. Als Gras: kleines, zerrauftes Rasenstück. Als Grill: diese Narben stammen vielleicht vom Rost eines Grills. Diese Walbarten ohne Wal filtern tonnenweise Krill aus einem Meer von – hier fehlt das Bild. Kein Bild zu sehen. Spuren von Arbeit, Filz. Ein Bewegungsarchiv, ich seh das historisch, als Film. Zerlegte das Holz. Schaute den Stapel an.